Donnerstag, 8. Januar 2004
Das Gewohnheitstier
Auch an diesem Tag führt ihn sein Weg wie jeden Tag in das Café direkt an der Hauptstraße.

Als er es an diesem Tag betritt, ist es fast leer. Nachdem er ein Gewohnheitstier ist, setzt er sich immer an denselben Tisch, deutet dem Kellner. Der nickt stumm und bringt ihm kurz darauf einen Espresso, ein Glas Wasser und die Tageszeitung.

Wie jeden anderen Tag blättert er lustlos die Zeitung durch, lest die Headlines des Lokalteils und rührt mit den Löffel in seinem ungezuckerten Kaffee. Manchmal bleibt er bei einem interessanten Artikel hängen, doch das passiert selten.
Dann faltet er die Zeitung sorgfältig zusammen, legt sie aufs andere Ende des Tischs, nimmt die Tasse und trinkt den Kaffee mit einem Zug aus.

Jetzt widmet er sich ganz seiner Lieblingsbeschäftigung. Er mustert die Menschen, die ebenso wie er den Abend mit einem guten Kaffee oder einem Glas Bier genießen.

Da ist ein junges Paar. Sie sind sehr verliebt, halten sich an den Händen, lachen sich verliebt an und stecken immer wieder ihre Köpfe zusammen um sich zu küssen.

Während er in seiner Jacke nach den Zigaretten und seinem Feuerzeug sucht, schweift sein Blick weiter durch den Raum.
Da ist der ältere Herr, der ebenfalls jeden Tag am selben Tisch sitzt. Zu seinen Beinen liegt ein alter Schäfer, der wohl viel eher diese Rast beim abendlichen Spaziergang braucht, als sein Herrchen. Die beiden Männer grüßen sich kurz mit einem fast unmerklichen Kopfnicken.

Er nimmt einen langen, genüsslichen Zug aus seiner Zigarette und seine Augen wandern dabei zu einer jungen Frau. Sie hat ein Baby am Arm und lächelt es liebevoll an, während sie ihm sanft über den Kopf streicht. Sie spricht mit dem Kleinen. Er kann nicht verstehen was sie zu ihm sagt, aber das Baby ist sichtlich erfreut wie er an den kleinen Beinchen erkennen kann, die plötzlich zu strampeln beginnen.
Er lächelt.

In der Nische, ganz hinten im Lokal, er hätte sie fast übersehen, sitzt eine Frau in seinem Alter. Er weiß nicht warum, aber sein Blick bleibt an ihr hängen. Er mustert sie genauer. Sie lange brünette Haare die ihr in leichten Wellen auf die Schultern fallen. Ihre Gesichtszüge sind weich und ihre Haut ist rosig. Sie zündet sich eine Zigarette an und sieht nervös auf die Uhr.
Er fragt sich, auf wen sie wohl wartet und in seinen Gedanken sieht er einen jungen, großen Mann den Platz neben ihr einnehmen.

Sein Blick wandert weiter. Er beobachtet, wie der Kellner geschäftig hin und herläuft, Bestellungen aufnimmt und div. Getränke und kleinere Imbisse zu den Tischen trägt.
Er bemerkt, dass das junge Paar bezahlt und das Lokal verlässt.
Und wieder landet sein Blick in der Nische bei der Frau. Sie wartet noch immer und ihr Gesichtsausdruck verdunkelt sich zunehmend. Sein Blick streift ihren und für einen kleinen Moment sieht sie ihn an. Doch sofort senkt sie ihre Augen wieder auf die Uhr.

Jetzt nippt er an seinem Wasser. Das ist normalerweise das Letzte, bevor er zahlt und sich auf den Heimweg macht. Auch der Kellner hat das bemerkt und kommt langsam, mit der Rechnung in der Hand auf ihn zu.
Wie immer zahlt er mit einem fünf Euro Schein, gibt ein großzügiges Trinkgeld und steckt das Restgeld in seine Hosentasche. Und wie üblich steckt er sich noch eine Zigarette an, verstaut das noch fast volle Päckchen und das goldene Feuerzeug in seiner Jacke.
Und bevor er aufsteht schaut er noch einmal in die Nische. Sie ist leer. Im Aschenbecher glimmt noch ein Zigarettenstummel vor sich hin.
Rasch wandert sein Blick durch den Raum. Aber er kann sie nicht entdecken.

Also steht er auf, zieht seine Jacke an, wirft noch einen Blick auf den Tisch um sich zu vergewissern nichts vergessen zu haben und geht zum Ausgang.

Er hängt schon wieder seinen Gedanken nach, ist auf dem Weg in seine Wohnung wo er wie jeden Abend bis 22 Uhr fernsehen wird, sich dann ein Buch nimmt und damit ins Bett geht.
Er ist ein Gewohnheitstier.

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